www.erinnerungskultur-ekbo.de: Newsmeldungen https://www.erinnerungskultur-ekbo.de/ RSS Feed von www.erinnerungskultur-ekbo.de de www.erinnerungskultur-ekbo.de Thu, 28 Mar 2024 11:18:29 +0100 Thu, 28 Mar 2024 11:18:29 +0100 TYPO3 EXT:news news-13413 Thu, 24 Jun 2021 14:16:42 +0200 Ansprache zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion durch die deutsche Wehrmacht https://www.erinnerungskultur-ekbo.de/news-detail/nachricht/80-jahre.html gehalten 20.06.2021 am Ort des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers auf dem Friedhof Jerusalem V von Pfarrer i.R. Jürgen Quandt Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

wir haben uns hier versammelt, um uns des 80. Jahrestages des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 zu erinnern. Wir tun das an einem Ort, der uns darauf verweist, wieviel Leid und Tod infolge dieses Ereignisses damals über die Völker Europas gekommen ist. Auch 80 Jahre später schauen wir noch nicht auf eine Vergangenheit, die überwunden ist. Wir müssen uns eingestehen, dass alle Bemühungen, „die Vergangenheit zu bewältigen“, längst nicht die Wunden und den Schmerz, den das grausamste Verbrechen der Menschheitsgeschichte durch das deutsche Volk, mit dem auch unser heutiges Erinnerungsdatum verbunden ist, heilen konnte. Die Schuld, die damals das deutsche Volk auf sich geladen hat, weil es ein verbrecherisches, menschenverachtendes Regime hat Macht über sein Staatswesen gewinnen lassen, kann niemals bewältigt, geschweige denn getilgt werden. Wir, die Nachgeborenen, können uns nicht der Gnade der späten Geburt rühmen, sondern wir stehen, wenn auch nicht im schuldrechtlichen Sinn, in einer Wirkungsgeschichte dieser unermesslichen Schuld der vorangegangenen Generationen, die auch uns eine Verantwortung für das auflädt, was einst in deutschem Namen geschehen ist. Diese Verantwortung heißt: Es darf niemals wieder von deutschem Boden und unter deutscher Beteiligung Krieg und Völkermord ausgehen.

Wenn wir uns heute jenes Datums vor 80 Jahren erinnern, können wir das nicht ohne die Vorgeschichte, die dazu geführt hat, tun. Vor dem Überfall auf die Sowjetunion steht der Überfall auf Polen am 1. September 1939 und der wenige Tage zuvor abgeschlossene Hitler-Stalin-Pakt, der die geheim gehaltene Abmachung enthielt, die Völker Osteuropas, insbesondere Polen, dem jeweiligen deutschen und russischen Machtbereich zu unterwerfen. Dem vorausgegangen war ein Jahr zuvor das sog. Münchner Abkommen, das mit Zustimmung der Westmächte Frankreich und England die Tschechoslowakei zwang, Teile des Landes an das Deutsche Reich abzutreten.

Sich des 80. Jahrestages des Überfalls auf die Sowjetunion und dessen bis heute nachwirkende Folgen zu erinnern, nötigt auch, sich der gegenwärtigen politischen Lage zu stellen. Die Hoffnungen, dass mit dem Fall der Mauer und dem Ende des kalten Krieges ein neues Kapitel in einem friedlichen Miteinander der Völker Europas aufgeschlagen werde, haben sich 30 Jahre später weitgehend zerschlagen. Aus erhoffter Partnerschaft unter Einschluss Russlands ist erneut eine machtpolitische Konfrontation geworden, die zwar nicht mehr bzw. noch nicht zu neuer Feindschaft geführt hat, aber doch eine Gegnerschaft hervorgebracht hat, in der es wieder einmal mehr um Sicherung von Einflusssphären und weltpolitische Machtinteressen geht als um gemeinsame Friedenssicherung.

Wir stehen heute als Christinnen und Christen an diesem Ort und gedenken jenes Datums vor 80 Jahren, weil dieser Ort damals für über 100 Männer aus der Sowjetunion, mehrheitlich aus der Ukraine, ab 1942 inmitten Berlins zu einem Ort des Schreckens, zu einem Ort täglich erlebten Zwanges und Entwürdigung geworden war. Wir stehen hier, weil an diesem Ort die evangelische Kirche ein Zwangsarbeiterlager betrieb, an dem über 40 Kirchengemeinden, darunter auch 3 katholische, mit ihren Friedhöfen beteiligt waren. Es war das einzige kirchliche Zwangsarbeiterlager in Deutschland, was aber nicht bedeutet, dass dies der einzige Ort kirchlicher Zwangsarbeit war. Auch andernorts gab es in Kirchengemeinden und kirchliche Einrichtungen Zwangsarbeit von aus andern Ländern verschleppten Menschen, die wie Sklaven behandelt wurden.

Jahrzehntelang war dieser Ort ein Ort des Vergessens. Da, wo einst Menschen gelitten hatten und den Bomben über Berlin schutzlos ausgeliefert waren, war nach 1945 die Erinnerung daran buchstäblich zugeschüttet worden mit Friedhofsabfällen und abgeräumten Grabsteinen. Wer trägt dafür die Verantwortung? Erst Jahrzehnte später wurden durch Erforschung der Geschichte von Kirchengemeinden im Nationalsozialismus mehr zufällig Dokumente gefunden, die das ganze Ausmaß der Beteiligung kirchlicher Stellen und Einrichtungen am System der Zwangsarbeit offenbarten. Die gefundenen Dokumente belegen, dass damals einige namentlich bekannte Pfarrer und Verwaltungsbeamte in Stadtsynode, Konsistorium und Kirchengemeinden den Aufbau, die Organisation und den Betrieb des Zwangsarbeiterlagers auf dem Friedhof Jerusalem V bewerkstelligten. Es ist nicht nur festzustellen, dass die damals handelnden Personen bedenkenlos die nationalsozialistische Rassenideologie, der zufolge es Untermenschen und deutsche Herrenmenschen gab, zur Grundlage ihres Handelns machten und damit den christlichen Glauben von der Gleichheit aller Menschen verrieten, sondern sie waren darüber hinaus bemüht, mit dem Betrieb dieses Lagers auch Profit für die beteiligten Gemeinden zu erwirtschaften, was mehr oder weniger auch gelang. Zur Rechenschaft wurde niemand der Beteiligten nach 1945 gezogen. Seit dem Auffinden dieser Dokumente, die ein schuldhaftes Verhalten kirchlicher Institutionen und ihrer Verantwortlichen belegen, ist dank der Initiative etlicher Menschen in unserer Kirche viel zur Aufarbeitung des begangenen Unrechts geschehen. Letzte Überlebende wurden gesucht und gefunden. Es ist zu menschlich bewegenden Begegnungen gekommen. Es wurden materielle Hilfen geleistet, und es wurde dieser Ort wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Der Schutt und Abraum der Geschichte wurde beseitigt und so der Blick auf das Geschehene freigelegt. Die Arbeit ist noch nicht beendet. Sie muss weitergehen, denn die Vergangenheit ist noch nicht vergangen.

Wir stehen heute an diesem Ort und fragen nach der Verantwortung, die das schuldhafte Verhalten derer, die hier frevelhaft tätig waren, uns abfordert. Der Blick zurück nötigt uns, die, denen Leid und Unrecht zugefügt wurde, und deren Nachkommen zu bitten, uns ihre Bereitschaft zur Versöhnung zu gewähren. Die Schuld kann nicht gesühnt oder wiedergutgemacht werden. Aber ihre Überwindung kann zu einem neuen Miteinander führen.

Darum stehen wir nicht nur hier, um zurückzublicken. Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen, bedeutet auch, sich für eine gelingende Gegenwart und Zukunft einzusetzen. Für Christinnen und Christen kann in Fragen von Krieg und Frieden alleiniger Maßstab nur sein, was Christus selbst uns vorgelebt und mit diesen Worten aus den Seligpreisungen vorgegeben hat: „Selig sind die Friedenstifter, denn sie werden Kinder Gottes heißen.“ Als Jüngerinnen und Jünger Jesu sollen wir Friedenstifter sein. Was heißt das heute, hier an diesem Ort? In der Erinnerung bewahren, was geschehen ist, damit die Opfer durch nicht durch Vergessen ein zweites Mal um ihr Leben gebracht werden, das ist das Eine. Das Andere ist, darauf zu schauen, wo heute bei uns oder durch uns Menschen ihrer Würde beraubt werden, ihnen Gewalt angetan wird und sie aus der Gemeinschaft ausgegrenzt werden. Davor, dass solche Zustände heute auch bei uns vorkommen, die Augen zu verschließen, wie es damals viele taten, würde bedeuten, ebenfalls schuldig zu werden, nicht durch die Übernahme der Schuld anderer, sondern durch eigenes Versagen.

Christinnen und Christen sind sich dessen bewusst, dass Frieden und Bewahrung von Recht und Gerechtigkeit nicht immer nur durch Gewaltlosigkeit erreicht werden können, aber in der Abwägung des ethischen Dilemmas von Sicherung des Friedens durch Gewaltlosigkeit oder durch militärische Gewalt stehen sie auf der Seite derer, deren Bemühen zuallererst auf Friedenssicherung durch Gewaltlosigkeit gerichtet ist.

Christinnen und Christen sind sich dessen bewusst, dass die Staaten in der Welt die Souveränität über ihre Grenzen haben müssen, aber sie stehen angesichts der Unfähigkeit der Weltgemeinschaft, allen Menschen ein auskömmliches Leben in Frieden und Gerechtigkeit zu ermöglichen und angesichts millionenfachen Flüchtlingselends auf der Seite derer, die sich für Flüchtlinge einsetzen, das heißt dafür einsetzen, dass Migration nicht verhindert, sondern politische ermöglicht wird, dass Notleidende in wohlhabenden Ländern Aufnahme finden und dort in Würde und gesicherten Verhältnissen leben können.

Wir sind durch unsern Glauben aufgerufen, das uns Mögliche als Kirche, als Einzelne zu tun, und sei es noch so gering. Dazu verpflichtet uns auch das Vermächtnis derer, an deren Leid und Elend uns der heutige Tag erinnert.

Jürgen Quandt

 

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